DER BRUDER UND DIE BRUDERSCHAFT NACH DER ORDNUNG MELCHIZEDEKS 


VIERTER TEIL
 

 

DER MEISTER VON NAZARETH

 

 

«Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich gleich einem tönenden Erz oder einer klingenden Schelle!» ( 1 Korinther 13:1 )
So redete einer, der um die Liebe wußte! – –
Doch ein anderer war, der hatte vordem diese Liebe dargelebt in seines Lebens unvergänglich hoher Lehre...
Er, den wir den größten aller Liebenden nennen, war zwar von vielen seiner Brüder vorgeahnt, doch hatte keiner seiner Liebe Glut erreicht!
Und viele sind nach ihm gekommen und werden viele noch erscheinen, die wahrlich «Liebende» zu nennen sind; jedoch trotz aller ihrer Liebeskraft war keiner und kann keiner je erstehen, der ihm vergleichbar wäre, – obwohl ich hier von seinen geistgeeinten «Brüdern» rede! 
Doch, was in jedem dieser seiner Brüder einst zur Offenbarung kam, war stets das Gleiche, was in ihm in seiner ganzen Fülle sich zu offenbaren wußte.
Und was noch in der Zeiten Lauf zu Offenbarung werden kann, wird nur das Gleiche in stets neugeformter Offenbarung sein! – – 
Es ist nur hirnverbrannter Wahn, der da vermeint, daß die Gestalt des Zimmermanns aus Nazareth der frommen Mythe angehöre; doch der, den nun die Nachwelt nur in einer Zeichnung kennt, die erst Jahrhunderte nach seinem Erdendasein seine Züge formen wollte, sah freilich anders aus als jener fakirhafte Wundertäter, den man aus ihm gebildet hat in einer Zeit, da längst der Aberglaube östlicher und westlicher Gehirne um sein Bildnis rang...
Wer wirklich hier der Wahrheit Spur erkunden will, der muß die Zutat wundersüchtig erdgebundener Geschlechter aus jenem Bilde tilgen lernen, das ihm von früher Jugend an als unantastbar galt.
Alsdann erst wird ihm des hohen Meisters Auge entgegenleuchten und er wird eines Menschen Antlitz schauen, der – Gottgeeint, im tiefsten Sinne solchen Wortes – dennoch als Mensch dem Menschen dieser Erde «frohe Botschaft» brachte von jenem Reiche wesenhaften Geistes, das er «das Reich der Himmel» nannte. – – – 

Wenn ich von anderen – wie von mir selbst –als seinen «Brüdern» künde, so würde jeder meine Worte irrig deuten, wenn er etwa vermeinen wollte, es sei hier ausgesprochen, daß wir anderen dem erdenfernen Zauberbilde gleichen wollten, das mit dem Namen dieses Zimmermanns aus Nazareth, in später Zeit, die ihn dem «Logos» gleichzustellen suchte, unterzeichnet wurde.
Fern liegt uns solche Torheit!
Die ihn durch ihre zweifelhafte Kunst auf solche Weise in den höchsten Himmeln sichern wollten, haben ihn nur allem Erdenmenschlichen entfremdet, so daß er denen nicht mehr faßbar ist, die er empor zu höchsten Geisteshöhen führen wollte!
Was Wunder, wenn er ihnen schließlieh dann zur Mythe wurde!

Seht, Freunde, ich weiß gar wohl, wovon ich rede, wenn ich den größten aller Liebenden den hohen «Bruder» nenne!
Kein einziger aus uns, so hoch ihn auch der Geist erhoben haben mag, wird je dem Irrsinn huldigen, er –der Sprecher – sei das «Urwort» selbst, das aus ihm spricht, und also dünkt es uns: es sei verbrecherische Schmähung, von jenem Größten aller Liebenden zu glauben, daß er in solchem Irrsinn sich gefallen habe...
Wir wollen ihn euch zeigen, so, wie er wirklich war, als er, gleich uns, der Erde Mühsal trug, – so, wie er heute noch, – der geistgeeinte Bruder seiner Brüder, – in Geistgestaltung uns erkennbar und vereinigt, sich uns Tag für Tag bezeugt!
Wenn wir, die ihn so hoch verehren, uns seine «Brüder» nennen, so soll dies nur besagen, daß er als Erdenmensch der Unseren einer war und daß er auch in geistiger Gestalt der Unseren einer bleibt, mag man auch aus dem Sohn des Menschen, der alles Menschliche in sich erfahren hatte, als er auf der Erde lebte, in einer heute fernen, wunderargen Zeit den «Gott» gestaltet haben, der da aus seiner Gottesherrlichkeit herniedersteigen mußte, weil eines kleinen alten Volkes Rachegötze vorgeblich seine Wut nicht zügeln konnte, bevor der eigene «Sohn» sich ihm als Opfer dargeboten hatte. – – 

Wir reden nicht von einem, den wir nur aus alter, dunkler Kunde kennen! – 
Wir sind mit dem, von dem wir künden, so vereinigt, wie keine irdische Vereinigung jemals den Menschen mit dem Menschen einen kann! – – – 
Wir wissen, wüßten wir es anders nicht, durch den, um den es hier sich handelt, daß er einst als Mensch, in allen Stücken menschlich uns vergleichbar, über diese Erde schritt und daß er nur an Liebesfeuerkraft uns also überlegen war, daß er das überirdisch-hohe Wunder wirken konnte, die Geistesaura dieser Erde so zu wandeln, daß jeder, der da «guten Willens» ist, nunmehr den Weg zurück zum Geiste, in der Liebe finden kann, – gleichsam «gebahnt», so wie ein Wanderer durch hohen Schnee den Weg nicht fehlen wird, den einer bahnte, der des rechten Weges kundig war...
Auf solche Weise ist es wahrlich seine eigene Kunde, die euch durch unser Wort erreicht!
Seht ihr an uns des Menschen Mal, obwohl wir uns als seine «Brüder» euch bezeugen müssen, so wisset, daß auch er, gleich uns, ein wahrer Mensch war, dem nichts Menschliches erlebnisferne blieb!
Nichts Menschliches schien ihm zu niedrig, als daß er es nicht einstmals in sich selbst, in eigenem Erleben, mitempfunden hätte! – 
Er wäre nicht gewesen, der er war, wenn nicht die ganze Weite alles Menschlichen in ihm sich auszuwirken Raum gefunden hätte! – 
Doch war ihm auch wahrlich keine Macht gegeben, seinem Menschentum sich zu entwinden, hätte er sich jemals ihm entwinden wollen!
Nur, daß er letzten Endes Sieger blieb, macht seine Größe aus, so wie ein jeder, der ihm folgen will, sich nur als «auserwählt» bezeugt, wenn er der Erde Torheit, der er niemals ganz entrinnen kann, solange er auf dieser Erde lebt, für «Nichts» zu achten weiß und aller «Sündenschuld» sich zu entwinden lernt, um in Erlösungslicht sich zu erheben, sich selbst verzehrend in den Feuergluten jener Liebe, die in dem Meister, dem er nur in Liebe sich vereinen kann, das hohe Wunder seines Lebens wirkte...

Wer da den «Großen Liebenden» im Innersten des Innern in sich selbst zu finden hofft – denn er ist wahrhaft allen Erdgeborenen so nahe, daß er leicht sich finden läßt – der muß vor allem jenem Wahn entsagen lernen, der aus dem reinsten Menschen, den die Erde trug, den «Gott» zu bilden wußte, der seinem Vatergott sich als Versöhnungsopfer irren Rachedurstes, menschlich allzumenschlicher Erfindung, bot! – 
Dann erst kann er den hohen Meister in sich vernehmen: – den weisen Zimmermann aus Nazareth!

Aus: Das Hohe Ziel pdf Seiten: 70-76